Im Wahn versunken – Wenn die Psychose die Kontrolle übernimmt

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Sie ist die Nichte von John F. Kennedy, ihr leiblicher Vater heißt Mick Jagger. Als dreijähriges Kind wurde sie entführt und wuchs bei falschen Eltern auf. Die CIA fängt Briefe ab, die sie unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel schickt und einige Nachbarn arbeiten für diverse Geheimdienste. Sie wartet über Stunden frierend auf dem Bürgersteig stehend auf eine Verabredung mit einem Mann, den es gar nicht gibt. Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und weitere Behörden hält sie mit unsinnigen Anschuldigungen und Anzeigen auf Trab. In ihrem Buch „Neben der Spur – Wenn die Psychose die soziale Existenz vernichtet“ erzählt die ehemalige Hörfunkjournalistin Christiane Wirtz ihre Geschichte.

Mehr als zwei Jahre lebte sie in diesem Wahn. Sie hatten bereits mehrere Psychosen erlebt, erhielt mit 34 Jahren die Diagnose „Schizophrenie“. Bislang konnte sie ihr Leben ganz gut meistern und arbeitete 2013 für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Köln. Allerdings beging sie einen fatalen Fehler, durch den sie alles verlor: Arbeitsstelle, Freunde, ihre Eigentumswohnung und sämtliche Ersparnisse. Der eingeschlagene Weg führte sie später via Zwangseinweisung in die Psychiatrie.

Buch über Psychose

Dietz Verlag, ISBN 978-3-8012-0518-8, 22,00 Euro

Ohne von einem Arzt begleitet zu werden, schlich sie ihre Medikamente aus. Ebenso schleichend verließ sie die von der Gesellschaft akzeptierte Realität. Der Irrsinn kam immer stärker zum Vorschein und gipfelte in einer aberwitzigen Reise nach Israel, denn „ihr Cousin“ Benjamin Netanyahu wird ihr sicherlich helfen, ihre Probleme zu lösen. „Meine Welt ist magisch. Ich wähle aus, was mich gerade anzieht“, schreibt sie. Sie warf mit beiden Händen ihre letzten Ersparnisse heraus, um kruden Ideen nachzujagen. Ein Korrektiv existierte schon lange nicht mehr. Wer ihr helfen wollte oder gar andeutete, mit ihr stimme etwas nicht, wurde zum Feind erklärt. Es gehört zum Krankheitsbild, es nicht wahrhaben zu wollen. Am Schluss hieß es „Christiane Wirtz gegen den Rest der Welt“.

Ein neues Leben beginnen

Aus der Psychiatrie entlassen und wieder auf dem Boden der Realität gelandet, kam die Scham über das verrückte Benehmen. Bald beschloss Wirtz ein Buch über ihre Erlebnisse zu schreiben, um Einblicke in eine Krankheit zu geben, über die offen kaum gesprochen wird. Dabei lässt sie ihre Leser nicht nur an ihrem völligen Absturz teilhaben, bei dem man immer mal wieder tief durchatmen muss, um das gerade Gelesene zu verarbeiten. Ganz Journalistin besucht sie Orte des Geschehens und interviewt Menschen, wie sie ihren Wahn miterlebt und darüber gedacht haben. Da ist zum Beispiel der Besitzer des Copy Shops, bei dem sie allen möglichen Unsinn kopiert hat, der Arzt für Psychotherapie, der ihre Lebensgeschichte kennt und mit dem sie regelmäßig Kontakt hatte oder die Friseurin, bei der sie eine „anstrengende“ Kundin war. Daneben zitiert sie immer wieder mit diversen Briefen und E-Mails Dokumente des absoluten Wahnsinns. Dadurch eröffnet die Autorin spannende Perspektiven.

Doch nicht jede verlorene Freundschaft ließ sich im Nachgang wieder kitten. Wirtz übt dabei auch Selbstkritik, schließlich hätte sie ihre Freunde vorher besser über ihre Krankheit informieren können. Dabei sei es wichtig, auf Erkrankte zuzugehen. „Denn das Mitgefühl anderer während der Psychose ist wie das letzte Band, das den Verrückten doch immer wieder noch an die Allgemeinheit, an die Gemeinschaft anschließt.“ Auch Betroffene nimmt sie in die Pflicht: Wer sich Diskussionen nach dem Motto „die verstehen eh nix“ entzieht, sondert sich selbst von der Gesellschaft aus.

Mit „Neben der Spur“ öffnet Christiane Wirtz eine Tür in eine andere Welt und wird damit nachhaltig Sichtweisen verändern.

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